Gast-Memory von Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischer

Leserkommentar (86) zum Spiegel-Artikel über Ingenhoven


23.06.2010


Sehr geehrter Herr Ingenhoven,

Sie befinden sich in guter Gesellschaft, wenn Sie sagen, dass Sie im Zusammenhang mit Stuttgart 21 „manches nicht verstehen“. Es gibt nämlich tatsächlich viele Befürworter von Stuttgart 21, die sich heute immer noch so äußern, als wären die „Beschönigungen“ der ersten Stunden nicht längst entkräftet. Da wird stereotyp das wiederholt, was heute noch auf den Webeseiten von Stuttgart 21 steht, obwohl es schon mehrfach widerlegt und in den einschlägigen Foren, Gutachten und Zuschriften zur Kenntnis gebracht wurde.

Dazu gehört z.B. die Behauptung, der jetzige Bahnhof wäre ein „Flaschenhals oder gar ein „Gordischer Knoten“ und der neue Bahnhof hätte die doppelte Leistung des jetzigen Kopfbahnhofes. Tatsache ist, dass der neue Bahnhof nur 8 Gleise und so gut wie keinen Erweiterungsmöglichkeiten unter der Erde hat und somit zum Flaschenhals werden wird. Auch die S-Bahntrasse auf den Fildern, auf der neuerdings auch die ICEs und Regionalverkehrszüge fahren sollen, wird bei Störungen zum Nadelöhr werden, weil die Gäubahntrasse bei S21 still gelegt wird. Zukunftsweisende Verkehrslösungen sehen anders aus. Selbst der Verkehrsminister gibt für letztere Lösung nur eine Halbwerstzeit von 25 Jahren an. Hier gilt wohl das Motto: „Meister, die Arbeit ist fertig. Soll ich sie gleich flicken?“

Ein weiteres Beispiel entnehme ich der gestrigen Zeitung (Stuttgarter Zeitung). Da behauptet das neue Werbebüro für Stuttgart 21, dass durch S21 das Stadtklima verbessert würde. Herr Dr. Martin Nebel, ein profunder Kenner der Materie, hat aber schon längst nachgewiesen, dass es nicht 5000 sondern 30 000 junge Bäume sein müssten, um die Leistung der zur Abholzung frei gegebenen, großen Bäume zur Verbesserung des Stadtklimas zu erreichen. Herr Dr. Nebel hat dafür allerdings eine nachprüfbare Berechnung vorgelegt in welcher die Blattfläche die maßgebende Rolle spielt und nicht eine bloße Behauptung.

Wer unzutreffende Behauptungen weiterhin als die Wahrheit sehen will und sich der rechtzeitigen Diskussion verweigert, der kann in der Tat „manches nicht verstehen“.

Mich treibt schon einige Zeit der Gedanke um, dass in den politischen Kreisen, die das Projekt auf den Weg gebracht haben, die Kenntnisse über S 21 offensichtlich auf dem ursprünglichen Stand stehen geblieben sind und diese waren, wie sich herausstellt, nicht ausreichend. Ein Indiz dafür besteht z.B. darin, dass diejenigen, die in den Gremien für das Projekt gestimmt haben, sich nicht zu Wort melden, wenn heute z.B. ganz andere Kosten auf den Tisch kommen oder das Versprochene nicht gehalten wird wie z.B. keine zusätzlichen Gleise im Neckartal usw.

Deshalb kann ich Ihnen und insbesondere den Volksvertretern nur empfehlen, überprüfen Sie, ob Sie mit Ihrem Kenntnisstand über Stuttgart 21 überhaupt noch auf dem Laufenden sind und ob Sie tatsächlich noch Genaueres wissen wollen. Die Herren Dr. Grube und Dr. Ramsauer wollen nach meinem Eindruck das Projekt „einfach durchziehen“ nach dem Motto „Fakten schaffen“. Den wahren Grund für ihr Handeln wird man nicht erfahren. Was sie als Grund angeben, ist für mich nicht stichhaltig und erfüllt keinesfalls die Wünsche der Mehrheit der Stuttgarter Bürger. Wirtschaftlichkeitsnachweise wurden von ihnen nicht veröffentlicht, weil sich das Projekt für diese Mehrheit nicht lohnt.


Leider wurde in Stuttgart, anders als in München, keine gute Vorbereitung von Stadt und Region zum Projekt Stuttgart 21 initiiert. In München hatte insbesondere die Stadt auf breiter Basis Vorstellungen entwickeln lassen, an denen München 21 von Anfang an „gemessen“ werden konnte. Vor- und Nachteile wurden auf breiter Basis genau analysiert. Nach einem Tiefbahnhof haben sich allerdings die Bahnkunden weder in München noch hier in Stuttgart gesehnt.

Manfred Fischer